Dieses Rauf und Runter! Diese Kurven! Schon wieder rollen wir über eine Hügelkuppe und in den nächsten Talgrund hinein. Mir ist flau. „Ich verstehe das nicht“, sage ich zu meinem Beifahrer. „Auf der Landkarte waren es nur zehn Zentimeter, und jetzt sind wir schon fast eine Stunde unterwegs!“ Linker Hand wachsen Weinberge den Hang hinauf, rechter Hand wachsen Weinberge den Hang hinunter.
Das südöstliche Piemont, zwischen der Hauptstadt Turin und dem Gebirgskamm des Apennins gelegen, ist ein einziges Hügelmeer. Zwischen den Städtchen Asti, Ovada und Cuneo wogt es schier endlos auf und ab. Auf den Kuppen: mittelalterliche Dörfer, eng herum gebaut um meist barocke Kirchen, ungezählte Schlösser und Burgen – eine der schönsten Landschaften Europas. Aber schlecht, wenn man einen Tisch in einer himmlischen Trattoria bestellt hat, spät dran ist und die Kurven nun kein Ende nehmen wollen.
Dass die Zeit so knapp ist, liegt daran, dass wir am Vormittag in Alba unterwegs waren, einer lebhaften kleinen Stadt mit vielen uralten Türmen, und uns kulinarisch eingestimmt haben – bei einem Besuch des berühmten Trüffelmarkts. Die weiße Albatrüffel, auf Botanisch Tuber magnatum Pico, gilt als Königin der Trüffeln und wird in den piemontesischen Hügeln zwischen September und Januar ausgegraben – von Trüffelsuchern, trifolau genannt, und Trüffelhunden, die erschnüffeln, unter welchen Eichen, Linden und Pappeln die kostbaren Knollen heranreifen. Das muss man den Hunden erst beibringen. Viele trifolau schicken ihre Tiere daher auf die „Trüffel-Universität“ von Roddi, einem Dorf bei Alba, wo Giovanni Monchiero in einem mehrwöchigen Intensivkurs den Geruchssinn der Vierbeiner schärft und ihnen beibringt, wie man mit den Krallen ordentlich gräbt.
Die Ernte der Saison besichtigten wir im pittoresken Innenhof eines alten Klosters von Alba: gelbliche, erdige Klumpen von winzig bis faustgroß, auf Taschentüchern oder unter Glasvitrinen präsentiert und mit Preisschildern versehen, bei denen unsere Ohren schlackerten. 2500 Euro kostete das Kilo, und das, versicherte der dicke, fröhliche Verkäufer mit dem grauen Schnauzer, sei im Vergleich zu den Vorjahren quasi geschenkt! Das Aroma der Trüffeln war so kräftig, dass wir es auch draußen in Albas Altstadtgassen noch in der Nase hatten: eine animalische Mischung aus Knoblauch, Pilz und etwas Moschusartigem. Es ließ uns das Wasser im Mund zusammenlaufen.
Als wir in Treiso aus dem Reisemobil steigen, ist es fast zwei Uhr. Die „Osteria dell’ Unione“ hat einfach gekalkte Wände, Ziegeldecke, Steinboden. An weiß gedeckten Holztischen sitzen Familien und Freundeskreise vor Tellern mit geräuchertem Schweinespeck, Kräuteromelettes und Polentaecken mit Pilzragout. Und das sind erst die Antipasti! Wir befinden uns, kulinarisch gesehen, ja auch auf historischem Boden. In diesem Lokal gründete ein Kreis von Feinschmeckern Anfang der 80er Jahre die „Slow Food“-Bewegung, die mit ihrer Förderung genussvoller Tischkultur und regionaler Produkte inzwischen rund um den Globus vertreten ist.
Das Regionalprodukt Trüffel steht jetzt im Herbst auch in der Osteria auf der Karte. Wir rufen das nette junge Serviermädchen, das uns eine üppige Portion davon über unsere Tajarin hobelt, feine hausgemachte Bandnudeln, die sonnengelb auf dem Teller liegen. So einfach geht großes Glück. Die Kirchturmuhr von Treiso zeigt vier, als wir mit vollen Bäuchen ins Freie wanken. Der Nachmittag ist verloren nach vier bis fünf Gängen und kann nur noch dem „relax“ gewidmet werden, wie die Italiener zu dem sagen, was bei uns Dolcefarniente heißt. Gut, dass wir unsere Betten gleich mit dabeihaben.
Angesichts der leiblichen Genüsse, die das Piemont zu bieten hat, drohen die Sehenswürdigkeiten der Region ein bisschen zu verblassen. Es war uns schon in den vergangenen Tagen aufgefallen: Während sich unter der gigantischen Kuppel der Wallfahrtskirche Santuario di Vicoforte nur eine Handvoll Besucher verlor, traten sich in der „Gelateria Lurisia“ im nahen Mondovi, wo es ein sagenhaftes Haselnusseis gibt, die Besucher auf die Füße. Und während in Santo Stefano Belbo ein einsames japanisches Ehepaar das hochinteressante Studienzentrum über Cesare Pavese besichtigte, den piemontesischen Schriftsteller, war im Weinkeller von Dogliani der Bär los. Piemont zählt zu den besten Weinanbaugebieten der Welt, vor allem dank der Nebbiolo-Traube, aus der die Spitzenweine Barolo und Barbaresco gekeltert werden. In Dogliani verkosteten wir Dolcetto: Die autochthone piemontesische Rebsorte ergibt einen keineswegs süßen, sondern trockenen Rotwein mit einer leicht bitteren Mandelnote – von dem wir uns natürlich gleich ein paar Flaschen einpacken ließen.
Wir wandern ein wenig durch die Weinberge. Der Blick nach Westen ist atemberaubend. Hügelkette hinter Hügelkette. Einsame Höfe im Gegenlicht. Dahinter die schneebedeckten Westalpen, die das Piemont nach Frankreich hin abgrenzen. Im Tal liegen romantische Nebelschwaden, doch darüber ist die Luft von einer fast knisternden Transparenz. Wir stehen und betrinken uns an dieser Aussicht. Hügel haben eben auch ihr Gutes.