Hier könnte es gewesen sein. Hier auf der Piazza von Cannobio, die sich direkt ans Seeufer schmiegt und die von Palazzi in schönster italienischer Manier gesäumt ist – dicht aneinandergedrückt, die Fassaden dunkelrot, hellblau oder ockerfarben gestrichen, mit Arkadengängen oder Erkern geschmückt. Hier könnte sie gestanden haben, meine Mutter, den Blick auf den Lago Maggiore gerichtet und vielleicht auch auf den weißen Ausflugsdampfer, der da gerade, von Ascona kommend, zielstrebig auf Cannobio zustampft. Denn es ist schon ein recht betagtes Modell. Im Jahr 1956 war meine Mutter 18 Jahre alt und auf ihrer ersten Italienreise. An den Lago Maggiore. Über den Gotthard war sie gekommen, mit dem Zug, und so aufgeregt, „dass ich schon ab Airolo in Hut und Mantel im Gang stand, um nur ja Locarno nicht zu verpassen“.
Sie blieb nicht die einzige deutsche Touristin am See. In den fünfziger Jahren entdeckte halb Deutschland Italien für sich. Neugierig und vom Wirtschaftswunder mit der nötigen Reisekasse versehen, steckten die Deutschen ihre Nasen über den Alpenhauptkamm und schnupperten an den oberitalienischen Seen, am Lago Maggiore und am Comer See, am Orta-See und am Lago di Lugano, den Duft des Südens. Meine Mutter trank ihren ersten Espresso, probierte Campari und Zitroneneis. Sie sah Magnolienbäume blühen und gelbe Mimosen. „Es roch so anders als zu Hause“, erzählte sie mir später immer wieder. „So süß und vielversprechend. Das Leben in Italien war beschwingt und unbeschwert.“
Einzigartige Landschaft
Und heute, 57 Jahre später? Während es auf der Nordseite des San-Bernardino-Passes noch geregnet hatte, strahlt die Sonne auf seiner Südseite so funkelnd, als wolle sie es mir beweisen, dass der Trick immer noch funktioniert. Dass die oberitalienischen Seen immer noch mit schmelzender, südlicher Leichtigkeit verführen. Langsam fahre ich von Cannobio aus südwärts. Links liegt der glatte, blaue Spiegel des Sees, rechts schwingen sich Hänge rasch zu alpinen Höhen empor. Auf dem schmalen Saumstreifen dazwischen prunken Natur und Architektur um die Wette, dass es mir den Atem verschlägt. Hinter zugewachsenen Steinmauern breiten sich großzügige Parkanlagen voller Oleander und Zitronenbäume aus. Durchs offene Wohnmobilfenster dringt der schwere, berauschende Duft von Pitosforo-Hecken herein. Glyzinien ranken sich um schmiedeeiserne Portale, hinter denen Kieswege zu türmchengeschmückten Villen hochführen. Mailänder Aristokraten und Kirchenväter waren es, die hier vom 17. Jahrhundert an und im Windschatten des 4634 Meter hohen, mit ewigem Eis bedeckten Monte Rosa ihre Sommersitze und Gärten entwerfen ließen. Kleine Paradiese im großen Garten Eden.
Die Schönheit der oberitalienischen Seen
Nicht nur am Lago Maggiore, sondern auch an den Ufern der weiter östlich gelegenen Nachbarn Lago di Lugano und Lago di Como ist das südliche Ferienglück für Camper zu Hause. Uferpromenaden unter schneebedeckten Gipfeln, schaukelnde Fischerboote, darüber der süße Duft von Jasmin und frischem Espresso. Doch am Luganer See, der größtenteils auf Schweizer Staatsgebiet liegt, wird der überbordende mediterrane Charme sichtbar von helvetischem Wohlstand und Ordnungsfreude in Schach gehalten. Zu den Villen am Seeufer führen hochmoderne Glasaufzüge hinab; Jaguars schnurren fast lautlos vorbei. In Lugano, der Finanzstadt mit Seezugang, spiegeln sich die Palmen in blitzblank polierten Bankfassaden, hinter denen reiche Italiener ihre Millionen verstecken.
Idyllische Orte
Ob sich meine Mutter dort wohlgefühlt hätte? Wahrscheinlich wäre der Lago di Como eher nach ihrem Sinn gewesen. Mit Como, der lebendigen Handelsstadt, die heute noch für ihre kostbaren Seiden und Textilien berühmt ist. Mit Varenna, dem romantischen Uferdorf mit seinen bunten Fischerhäusern und dem schmalen Kiesstrand. Palazzi, die vor langer Zeit einmal in Ocker, Terrakotta oder Sienarot gestrichen wurden, sehen auch dann nicht baufällig aus, wenn der Verputz bröckelt. Sie passen auch deshalb ins Bild, weil das Leben selbst Retro-Charakter hat – und immer wieder Szenen parat hat, die der Norden solchermaßen nicht kennt. In Laglio überholt mich mit elegantem Schlenker eine dunkelblau lackierte Vespa. Ein Mann im Anzug sitzt darauf, die Rockschöße fliegen im Wind, die Aktentasche klemmt zwischen seinen Beinen.
Sie sind eine einzige Verheißung, diese Seen, das hat schon meine Mutter gespürt. Die Einsicht, dass gar nicht weit weg von der Heimat ein anderes Leben möglich ist. Ein Leben voller Leichtigkeit, voll jasminduftender, süßer Wärme. Ein glücklicheres Leben, vielleicht. Westlich des Lago Maggiore, weniger als ein Zehntel so groß, liegt der Lago d’Orta inmitten grüner Hügel wie eine in Samt gebettete Perle. Dörfer säumen seine Ufer. Kühe grasen, Menschen streben zur Abendmesse. Orta San Giulio selbst, das Städtchen am Ufer, könnte nicht idyllischer sein. Ich spaziere durch enge Gassen, vorbei an verblassenden Renaissance-Fassaden und schlafenden Katzen bis zur Piazza Motta. Auf drei Seiten ist sie von alten Palazzi mit schönen Arkadengängen gesäumt; die vierte öffnet sich zum Wasser und zur Insel San Giulio. In nur zwei Minuten setzt mich der Bootsmann zu dem kleinen Eiland hinüber, auf dem Schlangen und Ungeheuer gehaust haben sollen, bevor ihnen der Heilige Julius im 4. Jahrhundert den Garaus machte. Man kann ihm gar nicht dankbar genug dafür sein.